»Das Einhalten von Distanz
wird zur letzten Hoffnung.«

Elias Canetti: Masse und Macht, Kapitel Epidemien.

Canetti Stiftung

für die editorische Aufarbeitung von Werk und literarischem Nachlass des Nobelpreisträgers Elias Canetti (1905–1994)

Der Nachlass des Chronisten, des Erzählers und Dramatikers, des viel gelesenen und zitierten Jahrhundert-Intellektuellen birgt wertvolle Schätze, die nach dem Willen des Autors erst allmählich gehoben werden dürfen: Die letzte von ihm gesetzte Sperrfrist läuft im Jahr 2024 ab. Die in Zürich ansässige Canetti Stiftung finanziert die Erarbeitung der kritischen Gesamtausgabe.

Elias Canetti fotografiert von Raphaël Sorin, Paris

»Die Stiftung bezweckt die Förderung der editorischen Aufarbeitung des Werkes und des literarischen Nachlasses des Schriftstellers Elias Canetti; sie fördert die Auseinandersetzung mit seinem Werk wie auch die archivarische Sicherung desselben und achtet und wahrt bei all ihrem Handeln in möglichst umfangreicher Weise die Urheberrechte; die Stiftung bezweckt ferner dazu beizutragen, dass die Erinnerung an die Lebensgeschichte von Elias Canetti als Exilschriftsteller wachgehalten und sein Denken stets neu in den gesellschaftlichen Diskurs getragen werden; die Stiftung kann weiter die Aufarbeitung des schriftstellerischen Werks und Lebens von Veza Canetti fördern und die archivarische Sicherung unterstützen. Die Stiftung kann in Erfüllung ihres Stiftungszwecks in der gesamten Schweiz wie auch im Ausland tätig sein.« Die Gemeinnützigkeit der Stiftung ist anerkannt.

Pressenotiz Neue Zürcher Zeitung

Zum Ablauf der letzten von Elias Canetti verfügten Sperrfrist am 14. August 2024

Am 14. August 1994 starb in Zürich der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti. Mit dem dreißigsten Todestag sind die letzten von ihm verfügten Sperren ausgelaufen, seine Erben dürfen den Nachlass ab diesem Datum nach eigenem Ermessen der Forschung zur Verfügung stellen und publizieren. Geboren 1905 nahe der Mündung der Donau ins Schwarze Meer, war Canetti zuerst dort, dann in Manchester, Zürich und Frankfurt am Main aufgewachsen, studierte in Wien und lebte dort bis 1938, dann bis in die 1970er Jahre in London und später wieder in Zürich. Als er starb, hatte er wohlgeordnete Regelungen für seinen Nachlass getroffen, für dessen Verbleib (größtenteils in der Zürcher Zentralbibliothek) ebenso wie für die Sperrfristen zum Schutz von Persönlichkeitsrechten. Die letzte Sperre betraf noch die an Canetti gerichteten Briefe und seine Tagebücher. Vor allem der Zugang zu letzteren wird mit Neugier erwartet, zumal der Autor bereits sechzigjährig ausführlich über dieses Genre seines Schreibens Auskunft gegeben hat: Die folgenden Passagen sind zitiert aus seinem 1965 geschriebenen Essay Dialog mit dem grausamen Partner (veröffentlicht 1975 im Rahmen der Essaysammlung Das Gewissen der Worte).

Es wäre für mich schwer, mit dem weiterzukommen, was ich am liebsten tue, wenn ich nicht manchmal ein Tagebuch führte. Nicht dass ich diese Niederschriften verwende, sie sind nie der Rohstoff zu dem, woran ich eben arbeite. Es ist aber so, dass ein Mensch, der die Heftigkeit seiner Eindrücke kennt, der jede Einzelheit jedes Tages so empfindet, als wäre es sein einziger Tag, der – man kann es nicht anders sagen – recht eigentlich aus Übertreibung besteht, der aber auch diese Anlage nicht bekämpft, weil es ihm um das Herausheben, um die Schärfe und Konkretheit aller Dinge zu tun ist, die ein Leben ausmachen, – es ist so, dass ein solcher Mensch explodieren oder sonstwie in Stücke gehen müsste, wenn er sich nicht an einem Tagebuch beruhigte. Beruhigung ist vielleicht der Hauptgrund, warum ich ein Tagebuch führe. Es ist kaum zu glauben, wie der geschriebene Satz den Menschen beruhigt und bändigt. Der Satz ist immer ein anderes als der, der ihn schreibt. Er steht als Fremdes vor ihm, eine plötzliche feste Mauer, über die sich’s nicht springen lässt. Sie wäre vielleicht zu umgehen, aber noch bevor man drüben anlangt, steht in spitzem Winkel zu ihr eine neue Mauer da, ein neuer Satz, nicht weniger fremd, nicht weniger fest und hoch, auch er verlockt zur Umgehung. Allmählich entsteht ein Labyrinth, in dem sich der Erbauer mit genauer Not noch auskennt. Er beruhigt sich an seinen Irrgängen. Es wäre den Personen, die die nächste Umgebung eines Dichters ausmachen, unerträglich, alles zu hören, was ihn erregt hat. Erregungen sind ansteckend, und die anderen haben, so sollte man hoffen, ihr eigenes Leben, das nicht nur aus den Erregungen eines Nächsten bestehen kann, sie ersticken sonst an diesem. Dann gibt es die Dinge, die man niemandem, auch nicht den Nächsten, sagen kann, weil man sich ihrer zu sehr schämt. Es ist nicht gut, wenn sie überhaupt nicht ausgesprochen werden, es ist nicht gut, wenn sie in Vergessenheit geraten. Die Mechanismen, mit Hilfe derer man sich das Leben leichtmacht, sind ohnehin viel zu gut ausgebildet. Erst heißt es, etwas zaghaft: »Eigentlich konnte ich nichts dafür«, und schon, im Handumdrehen, ist die Sache vergessen. Um dieser Unwürdigkeit zu entgehen, soll man es aufschreiben, und dann viel später, vielleicht Jahre später, wenn einem die Selbstzufriedenheit aus allen Poren trieft, wenn man’s am wenigsten erwartet, plötzlich entsetzt davorstehen. »Dessen war ich fähig, das habe ich getan.« Die Religion, die einen von solchen Schrecken ein für allemal absolviert, mag für solche gut sein, deren Amt es nicht ist, zu einem vollen und wachen Bewusstsein innerer Vorgänge zu gelangen. Wer wirklich alles wissen will, lernt am besten an sich. Aber er darf sich nicht schonen und muss sich so anfassen, wie wenn er ein anderer wäre, nicht weniger hart, sondern härter. Die Ödigkeit vieler Tagebücher besteht darin, dass nichts da ist, was sich beruhigen will. Manche, man möchte es nicht glauben, sind mit allem um sich, selbst mit einer Welt, die am Einstürzen ist, zufrieden; andere, in allen Wechselfällen, sind zufrieden mit sich. Mit der Beruhigung als einer Funktion des Tagebuchs ist es, wie man sieht, nicht gar so weit her. Es ist eine Beruhigung des Augenblicks, der momentanen Ohnmacht, die den Tag für die Arbeit klärt, nicht mehr. Auf die Dauer gesehen hat das Tagebuch genau die umgekehrte Wirkung, es erlaubt einem die Einschläferung nicht, es stört den natürlichen Verklärungsprozess einer Vergangenheit, die sich selbst überlassen bleibt, es hält einen wach und bissig.

Canetti schrieb dies ein Jahrzehnt vor seinen satirischen Charakterskizzen Der Ohrenzeuge und den autobiographischen Büchern, die aus der Erinnerung schöpfen. Sein Credo, wonach Tagebücher ihm nicht als literarisches Rohmaterial dienen, wird von keinem dieser Bücher widerlegt. Seine Bereitschaft zur Bissigkeit allerdings ist auch dort sichtbar, die vermeintlich zwingende Verklärung tut seiner Glasklarheit keinen Abbruch. Auch scheint ihm immer bewusst gewesen zu sein, wie verletzend er sein konnte. Bei einem Band seiner Erinnerungen musste er für den Nachdruck der Erstausgabe ein Kapitel zurückziehen, nachdem eine Leserin die lebhafte Schilderung ihrer Familie als beleidigend empfunden hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass Canetti im Alter besorgt war, mit seinen Schilderungen Lebenden zu nahe zu treten, und er verhängte eine achtjährige Sperrfrist, während der der Nachlass nicht wissenschaftlich bearbeitet und nichts daraus gedruckt werden durfte, und zusätzlich die erwähnte dreißigjährige Sperrfrist für An-Briefe und vor allem für seine Tagebücher, die er von den Aufzeichnungen (von denen er mehrfach Auswahlen veröffentlichte) und den Merkbüchern abgrenzt:

Im Tagebuch spricht man zu sich selbst. Wer das nicht kann, wer eine Zuhörerschaft vor sich sieht, sei es auch eine späte, sei es eine nach seinem Tod, der fälscht. Von solchen gefälschten Tagebüchern soll jetzt nicht die Rede sein. Auch sie können ihren Wert haben. Es gibt welche unter ihnen, die ungemein fesselnd sind; was an ihnen interessiert, ist das Maß der Fälschung: ihr Reiz hängt ab von der Begabung des Fälschers. Aber was ich jetzt ins Auge fassen möchte, ist das echte Tagebuch, das viel seltener und wichtiger ist. Welchen Sinn hat es für den Schreiber, nämlich für einen, der ohnehin sehr viel schreibt, weil Schreiben seine Profession ist? Da ist nun auffallend, dass es sich nicht immer führen lässt, dass es lange Perioden gibt, während deren man es scheut, wie etwas Gefährliches, fast wie ein Laster. (…) Im Tagebuch spricht man also zu sich selbst. Aber was heißt das? Wird man faktisch zu zwei Figuren, die ein regelrechtes Gespräch miteinander führen? Und wer sind die Zwei? Warum sind es nur Zwei? Könnten es nicht, sollten es nicht viele sein? Warum wäre ein Tagebuch wertlos, in dem man immer zu vielen spräche statt zu sich? Der erste Vorteil des fiktiven Ich, an das man sich wendet, ist, dass es einen wirklich anhört. Es ist immer zur Stelle, es wendet sich nicht ab. Es heuchelt kein Interesse vor, es ist nicht höflich. Es unterbricht einen nicht, es lässt einen ausreden. Es ist nicht nur neugierig, es ist auch geduldig. Ich kann hier nur aus eigener Erfahrung sprechen: aber ich bin immer wieder erstaunt, dass es jemand gibt, der mich so geduldig anhört wie ich andere. Doch stelle man sich ja nicht vor, dass dieser Hörer es einem leichtmacht. Da er den Vorzug hat, einen zu verstehen, kann man ihm auch nichts vormachen. Er ist nicht nur geduldig, er ist auch bösartig. Er lässt einem nichts durchgehen, er durchschaut alles. Er merkt sich die geringste Einzelheit, und sobald man sich ans Fälschen macht, kommt er vehement auf sie zurück. In meinem ganzen, immerhin sechzigjährigen Leben bin ich noch keinem so gefährlichen Gesprächspartner begegnet, und ich habe einige gekannt, deren sich niemand schämen müsste. Vielleicht ist es sein besonderer Vorteil, dass er keine eigenen Interessen vertritt. Er hat alle Reaktionen einer eigenen Person, ohne ihre Motive. Er verteidigt keine Theorie, er hält sich auf keine Entdeckungen etwas zugute. Sein Instinkt für Regungen der Macht oder der Eitelkeit ist unheimlich. Natürlich kommt es ihm zustatten, dass er einen durch und durch kennt. Wenn er mir auf eine Ungenauigkeit kommt, eine Unzulänglichkeit der Erkenntnis, eine Schwäche, eine Trägheit, fällt er wie ein Blitz über mich her. Wenn ich sage: »Das ist doch nicht wichtig, es geht mir um mehr als mich, es geht um den Zustand der Welt, ich habe zu warnen, das ist alles«, lacht er mir ins Gesicht. (…) Der andere, zu dem man spricht, wechselt seine Rollen. (…) Manchmal bin ich es und spreche zu ihm in Verzweiflung und Selbst-Anklage, mit einer Heftigkeit, wie ich sie niemand wünsche. Da wird er nun plötzlich zum scharfäugigen Tröster, der genau erkennt, worin ich zu weit gehe. (…) Er entlarvt, spöttisch und heiter, die Masken des Bösen, in denen man sich spreizt, und zeigt einem, dass man gar nicht so »interessant« ist. Für diese Rolle bin ich ihm eigentlich noch dankbarer. (…) Es kann gar nicht genug Listen und Vorsichtsmaßregeln geben, um ein echtes Tagebuch geheimzuhalten. Schlössern ist nicht zu trauen. Geheimschriften sind besser. Ich verwende eine abgeänderte Kurzschrift, die niemand zu entziffern vermöchte, der nicht eine Arbeit von Wochen daranwenden würde. So kann ich aufschreiben, was ich will, ohne je einem Menschen zu schaden oder weh zu tun, und wenn ich endlich alt und klug geworden bin, beschließen, ob ich es ganz verschwinden lasse oder einem geheimen Orte anvertraue, wo es nur durch Zufall, in einer unschädlichen Zukunft, aufzufinden wäre. (…)

Nun, im August 2024, stehen wir also an dem Punkt, da die Schlösser nicht mehr halten müssen, da die Geheimschrift professionell entziffert wird. Canetti hat keine Verbrennung angeordnet, hat keinen Nachlassverwalter bestimmt. Es obliegt den Erben, nach Ablauf der Sperrfristen verantwortungsbewusst mit dem Nachlass umzugehen. Seit dem Ablauf der ersten Frist 2002 wurde mit dem Buch gegen den Tod Canettis Annäherung an das von ihm beabsichtigte aber nie fertiggestellte Dokument seiner Todfeindschaft publiziert. In mehreren Ausgaben sind Briefe von ihm zu lesen, was bereits jetzt dazu beiträgt, ein differenzierteres Bild zu gewinnen, als er selber es von sich zeichnen wollte und konnte. Unter dem Titel Party im Blitz sind Canettis England-Erinnerungen im Druck erschienen, die stilistisch an die drei autobiographischen Bücher anschließen, als postume Veröffentlichung aber nicht der Selbstzensur des Autors unterworfen waren wie Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel. Diese werden, ebenso wie Der Ohrenzeuge und alle anderen Bände der ab 2025 erscheinenden kritischen Zürcher Ausgabe Anhänge erhalten, die ergänzend aus dem Nachlass schöpfen. Canettis Bekenntnis zum Dialogischen und seine sorgsame Weichenstellung für den Umgang mit dem Nachlass ermöglichen es, mit dem gebotenen Abstand diesen Jahrhundertautor in seinen verschiedenen, auch widersprüchlichen Facetten zu lesen.

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